Gülsün Karamustafa

Gülsün Karamustafa (geboren 1946, lebt und arbeitet in Istanbul und Berlin) ist eine bildende Künstlerin und Filmemacherin, die in ihrem Werk persönliche und historische Narrative mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen verwebt. Sie gilt heute, mit ihrer bereits über fünf Jahrzehnte währenden Laufbahn, als eine der wichtigsten türkischen Künstler*innen der Gegenwart. In ihren Gemälden, Skulpturen und Filmen reflektiert sie häufig das politisch turbulente Umfeld ihrer Heimat Türkei, wie etwa in den Prison Paintings [Bilder aus dem Gefängnis] (1972–1978), einer Serie von Gemälden, die nach ihrer Inhaftierung als politische Gefangene entstanden, oder in The Monument and the Child [Das Denkmal und das Kind] (2010), einer Serie von Skulpturen, die die komplexe Bildsprache der modernen Türkei und ihrer Nationaldenkmäler erkunden. Dabei vereinen ihre Arbeiten vielfach Elemente historisch belegter Fakten mit persönlicher Erfahrung, etwa wenn sich kindliche Impressionen mit harter politischer Realität vermengen.

Unter dem Titel The Crime Scene [Tatort] werden Gülsün Karamustafas Gemälde Window [Fenster] (1980) sowie die skulpturale Installation The Monument and the Child [Das Denkmal und das Kind] (2010), bestehend aus zehn Sockeln mit verspielten Keramikobjekten, einer kleinen Sammlung von Werken aus dem MoCA Skopje gegenübergestellt. Jene zwei Skulpturen und neun Gemälde gelangten alle als private Schenkung der Familie von Radmila Ugrinova-Skalovska in die Sammlung des Museums. Die hauptsächlich von mazedonischen Künstler*innen stammenden Arbeiten spiegeln bis zu einem gewissen Grad die Ansichten und Ambitionen der Familie wider, die die Werke akribisch gesammelt hat. Es stellt sich daher die Frage, wie ein solcher Bestand in den größeren Kontext einer Museumssammlung eingeordnet werden kann und ob die Werke aus der Privatsammlung überhaupt herausgelöst werden sollten.

Diese Thematik wird auch in Gülsün Karamustafas Arbeiten deutlich, die – vor allem in Window [Fenster] – zu fragen scheinen, unter welchen spezifischen Bedingungen Solidarität möglich ist und wann nicht. Die Künstlerin antwortet, indem sie die Werke in ein imaginäres Familienzimmer stellt, komplett mit schmucker Tapete und einem Lehnstuhl. Die Werke aus der Sammlung von Radmila Ugrinova-Skalovska und die Skulpturen sowie Gemälde von Gülsün Karamustafa formieren sich zu einer gemeinsamen Erzählung – aber während sich jede Arbeit bald als Teil eines Ganzen erweist, muss sie auch einzeln wahrgenommen werden. Mit einer Methode, wie man sie aus alten Kriminalfilmen kennt, zeichnet Gülsün Karamustafa die Konturen der Kunstwerke mit Klebeband, ähnlich den weißen Kreidelinien, nach – sie umreißt also deren komplexe Vergangenheit, stellt aber zugleich auch einen Zusammenhang zwischen ihnen in der Gegenwart her. Auf diese Weise öffnet die Künstlerin die Werke und deren komplexen Bezüge zueinander einer tiefergehenden Auseinandersetzung.

No Feeling Is Final. The Skopje Solidarity Collection – Audioguide
Kunsthalle Wien Podcast: Gülsün Karamustafa

Interview mit Gülsün Karamustafa

1. Welchen Eindruck hattest du von Skopje und von der Solidarity Collection des MoCA Skopje? Was fandest du an der Sammlung interessant?

Ich glaube, was nach dem Erdbeben in Skopje 1963 passierte, ist einzigartig und sehr berührend. Die Menschen haben sich damals mehr um die Probleme der anderen gekümmert, und deshalb denke ich, dass es diese Art von Solidarität nie wieder geben wird. Um uns herum gehen die zerstörerischen Kriege immer weiter. Wir behaupten zwar, dass die Menschen in engem Kontakt sind, und wir wissen aufgrund der technologischen Möglichkeiten besser als je zuvor, was in der Welt geschieht, aber wir waren nie ignoranter gegenüber dem Leid anderer Menschen.

2. Wie schaffst du eine Beziehung zwischen den Werken, die du aus der Sammlung ausgewählt hast, und deiner eigenen künstlerischen Praxis?

Bei meiner Auswahl aus der Sammlung des MoCA Skopje geht es vor allem um Skulpturen und Gemälde nordmazedonischer Künstler*innen, die sich auf den Alltag beziehen. Deshalb wollte ich sie ergänzen mit einem Gemälde, das einen politischen Kontext hat, und mit einem heiteren skulpturalen Werk aus meiner eigenen Praxis. Ich möchte ein eigentümliches, aber interessantes Gespräch zwischen diesen Werken herstellen, die in der Zukunft vielleicht nie wieder zusammenkommen werden.

3. Wie siehst du die Solidarität in der heutigen Kunstwelt? Denkst du, dass noch einmal etwas Ähnliches wie die Schenkungen für das MoCA Skopje entstehen könnte?

Die Beziehungen in der Kunstwelt beruhen heute leider eher auf Profit und Eigeninteressen. Natürlich versuchen einige Künstler*innen und Institutionen, diesen Konsens zu durchbrechen, indem sie mehr Möglichkeiten für kollektive Aktivitäten und Gemeinschaftsproduktionen schaffen und indem sie einen Austausch zwischen Künstler*innen und Institutionen herstellen. Doch die Macht des Kapitals findet immer wieder Wege, diese Solidarität zu untergraben.

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